3. Kapitel
Dieser Mann bringt mich noch um den Verstand!«
Violet, die auf einem umgestürzten Baumstamm am Fluss saß, hob den Kopf und lauschte Sarahs zornigen Schritten. Die Freundin drängte sich ungestüm durchs dichte Buschwerk und ließ sich atemlos neben Violet auf den Baumstamm plumpsen.
Violet war jetzt seit vier Wochen mit dem Zirkus unterwegs. Sie teilte sich eine Umkleidekabine mit Sarah, und die junge Frau war ihr in dieser Zeit ans Herz gewachsen. Sie fühlte sich fast, ja, verantwortlich für sie... ein lachhafter Gedanke. Wie konnte sich eine Blinde für eine Gesunde verantwortlich fühlen?
»Welcher Mann ist's diesmal? Und was hat er angestellt?«, fragte Violet belustigt. Sarah war eine gutmütige, etwas blauäugige junge Frau, aber sie geizte bei den Männern weder mit ihren Reizen, noch ließ sie es an Dramatik mangeln.
»Ach, Violet, wenn du wüsstest, was Thomas getan hat, dann würdest du keine Witze mehr machen!«
»Thomas? Der Löwenbändiger?«
»Wer sonst? Er sollte erst mal lernen, sich selbst zu zähmen, bevor er sich an die Löwen macht«, grummelte Sarah.
Violet beugte sich vor und nahm eine Handvoll Erde, die sie sorgfältig mit den Fingern durchsiebte. Kleine Steinchen, Holzstückchen, alles hatte seinen eigenen, charakteristischen Duft. Violet atmete tief ein. Sie sehnte sich nach dem Duft der Highlands, nach Heidekraut, Moor und Wind.
Sie waren nun seit Wochen unterwegs, immer langsam südwärts ziehend, in kleineren und größeren Ortschaften Halt machend. Violet war es überraschend leichtgefallen, sich im Zirkus einzugewöhnen. Dort aufzutreten unterschied sich kaum von ihren Vorstellungen als Zigeunergeigerin. Nur die Zuschauermenge war größer. Sie hatte an den ersten zwei Abenden die Begleitmusik für die Jongleure und die Akrobaten gespielt. Doch dann hatten die Besitzer des Zirkus, der alte Graham und seine Frau, entschieden, dass sie zu gut dafür sei und ihr eine eigene Nummer gegeben. Sie hieß jetzt Lady Violine.
Violet fand den Namen fürchterlich. Er erinnerte sie an ihr altes Leben als Tochter einer Lady. In diesem Leben hatte sie ihren Vater verloren und ihr Augenlicht.
»Hat er dich nicht zufriedengestellt?«, erkundigte sich Violet, mehr um sich von ihren düsteren Grübeleien abzulenken als aus echtem Interesse.
»Doch, schon.« Sarah lachte. »Was das betrifft, habe ich keine Klagen, wenn du verstehst, was ich meine.«
Violet verstand keineswegs. Sie hatte keine Ahnung, was Sarah damit meinte. Sie selbst war zwar schon ein-, zweimal verliebt gewesen und auch gelegentlich geküsst worden. Aber zu mehr war es nie gekommen.
Sie hatte lange gebraucht, bis sie ihren Geruchssinn so weit entwickelt hatte, dass er ihr Augenlicht ersetzen konnte. Und es war ein harter, buchstäblich dorniger Weg gewesen. Ständig war sie gestolpert oder hatte sich an scharfen Gegenständen die Haut aufgerissen. Ihr Körper war von Prellungen, Abschürfungen und Schnittwunden übersät gewesen. Wie konnte sie ihren Körper also einem anderen anvertrauen, wo sie ihn doch nicht einmal selbst unter Kontrolle hatte? Nein, der Gedanke an Intimität war ihr unmöglich gewesen.
Und als sie dann besser zurechtkam, hatte sie einfach niemanden getroffen, auf den sie sich hätte näher einlassen wollen. Die wahre Leidenschaft, wie es ihre Zigeunerbrüder und -schwestern ausdrückten, war Violet bis jetzt noch nicht begegnet. Eine der älteren Frauen, Mirela, hatte ihr versichert, sie würde es schon merken, wenn es so weit war.
»Jetzt komm schon, Sarah, erzähl, was passiert ist. Es wird bald dunkel, wir müssen ins Lager zurück.«
Sarah stieß einen tiefen Seufzer aus, der ihrem ganzen Weltschmerz Ausdruck gab, und Violet konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken.
»Na ja, er hat...« Sarah unterbrach sich. »He, woher weißt du, dass es dunkel wird?«
Violet atmete ein. Wie konnte sie der Freundin den Geruch der Dämmerung erklären? Sie beschloss, ihr einen Teil der Wahrheit zu erzählen, etwas, das sie verstehen konnte. »Die Vögel haben aufgehört zu zwitschern. Und wenn die Vögel sich in ihre Nester zurückziehen, wird es Abend.«
»Ach, ich verstehe. Das ist wirklich beeindruckend, Violet«, sagte Sarah.
»Danke«, lächelte Violet. »Aber was war jetzt mit Thomas?«
»Er hat Nell schöne Augen gemacht, wenn du's unbedingt wissen willst. Die Akrobatin, du weißt schon. Ich habe ihn dabei erwischt und ihm natürlich eine Szene gemacht. Und er hat gesagt: ›Wir sind schließlich nicht verheiratet. Gucken wird doch noch erlaubt sein! ‹« Sarah sprang empört auf. »Ha! Ich habe ihn natürlich auf der Stelle verlassen, ihn und seine betrügerischen Augen. Mal sehen, wie ihm das schmeckt!«
»Hmm.« Violet wusste selbst, dass dies nicht gerade der intelligenteste Kommentar war, aber was hätte sie sonst sagen sollen? Sarah war nun mal Sarah.
»Was machst du überhaupt hier draußen?«
»Ich...« Violet überlegte fieberhaft. Sie konnte ja schlecht zugeben, dass sie das Lager verlassen hatte, um sich ungestört im Messerwerfen zu üben. »Ich finde das Rauschen des Flusses so schön.« Und das stimmte. Wasserrauschen hatte immer etwas Beruhigendes. Sie hatte außerdem geübt, ihren Kopf vollkommen frei zu machen, was die beste Methode war, um die eigenen Gedanken vor einem Bluttrinker zu verbergen. Sie musste natürlich verhindern, dass diese ihre Pläne errieten.
»Ja, ein wirklich schöner Fluss«, räumte Sarah ein.
Was für eine seltsame Unterhaltung. So alltäglich, so normal. So weit entfernt von ihrem Leben, von ihren Wünschen und Plänen. Ihrem tiefen Bedürfnis nach Rache. Seit sie Sarah kennen gelernt hatte, Sarah mit ihren naiven Mädchenträumen, war eine ungewohnte Normalität in Violets Leben eingekehrt.
»Ach, vor lauter Thomas hätte ich beinahe vergessen, warum ich dich überhaupt gesucht habe!«, rief Sarah plötzlich begeistert aus.
»Thomas war nicht der Grund, warum du nach mir gesucht hast?«
»Ach nein. Zuerst bin ich im Lager herumspaziert und habe den alten Graham getroffen. Er hat mir die aufregenden Neuigkeiten erzählt. Und dann bin ich dich suchen gegangen, aber ich konnte dich nicht finden. Dann sah ich, wie Thomas Stielaugen gemacht hat, und da wurde ich so wütend, dass ich zu Marcus ging... ups.«
Das hatte Sarah wohl nicht verraten wollen. Marcus war der Jongleur. Doch Violet sagte nichts, damit Sarah endlich zu einem Ende kam mit ihrer Geschichte.
Nach einer kleinen Pause brummelte Sarah schließlich mürrisch: »Ich hatte ja schließlich mit Thomas Schluss gemacht, oder? Naja, irgendwann später hat Marcus erwähnt, dass er gesehen hätte, wie du in Richtung Fluss gingst. Also bin ich hergekommen, um dir die aufregenden Neuigkeiten zu erzählen!«
Stille. Violet wartete.
»Und? Was für Neuigkeiten?«, fragte sie gereizt.
Sarah kicherte. »Morgen werden wir London erreichen!«
London.
Violet schluckte.